An dieser Frau sollte sich die nächste Zürcher Tiefbauvorsteherin ein Vorbild nehmen

Die frühere Berner Tiefbauvorsteherin Ursula Wyss (SP) schaffte in sieben Jahren, was der Stadt Zürich in einem halben Jahrhundert nicht gelingen will.

 

«Es geht nicht nur ums Velo»: Ursula Wyss über die fünf Elemente von erfolgreicher Veloförderung. (zvg)

(Dieser Beitrag wurde für VelObserver.ch verfasst.)

Der junge Gemeinderat Alfred Rudorf bearbeitete Gegner und Verbündete solange, bis sein Postulat von einer Mehrheit unterstützt wurde. An einem kalten Mittwochabend überwies das Stadtzürcher Parlament den Vorstoss für ein durchgehendes Netz von Velowegen an den Stadtrat. Das war die Geburtsstunde der Zürcher Veloförderung. 

Seither sind 48 Jahre vergangen. Seither sagten die Stimmbürger:innen der Stadt Zürich an mindestens fünf Volksabstimmungen, dass sie mehr und bessere Velowege wollen, in der Regel mit 70 Prozent Ja-Stimmen oder mehr *1. Und trotzdem landet Zürich auf einer Rangliste der velofreundlichsten Städte der Schweiz auf dem 31sten von 34 Rängen*2. 

Das könnte sich jetzt ändern. Am 13. Februar wählte die Stadt die SP-Politikerin Simone Brander in den Stadtrat. Noch nie schien eine Kandidatin für den Stadtrat so entschlossen, die Verkehrspolitik neu auszurichten und den Velofahrer:innen mehr Platz zu geben. Man kann durchaus sagen: Brander kandidierte nicht als Stadträtin, sondern als Stadträtin der Verkehrswende. Und sie wurde wohl genau deshalb bereits im ersten Wahlgang gewählt. 

Simone Brander wurde im ersten Wahlgang noch vor drei Bisherigen in den Zürcher Stadtrat gewählt.

Noch ist unklar, ob Brander die Direktion des Tiefbaudepartements (TED) übernehmen kann. Doch ob Brander oder ein:e Bisherige:r: Wer immer das TED und damit auch die Verantwortung für die Umsetzung der Velorouten-Initiative übernimmt, für den lohnt sich ein Blick nach Bern. Denn die frühere Berner Tiefbauvorsteherin Ursula Wyss (SP) schaffte in sieben Jahren, was der Stadt Zürich in einem halben Jahrhundert nicht gelingen wollte. 

Wyss war von 2013 bis 2020 Direktorin für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün der Stadt Bern und gestaltete Bern in dieser Zeit zur Velohauptstadt der Schweiz um. VelObserver hat Wyss in Bern getroffen und sie nach den wichtigsten Erkenntnissen in ihrer Amtszeit gefragt. 

Im Gespräch kristallisierten sich fünf entscheidende Elemente einer erfolgreichen Veloförderung heraus, die wir in fünf kurzen Teilen zusammenfassen. 

 

1. Alles beginnt mit einem guten Projekt

Die Argumente der Autolobby gegen Velowege sind fast überall auf der Welt dieselben: Kollaps des (Auto-)Verkehrs und der unabwendbare Tod des Gewerbes. Das ist das Mantra, das die Diskussion seit Jahrzehnten beherrscht. 

Alles beginnt mit einem guten Projekt: In Bern war es die Route nach Wankdorf. (Stadt Bern)

In Bern haben diese Argumente im Sommer 2016 ihre Gültigkeit verloren. Die Stadt putzte sich damals für die Tour de France heraus, die dort gastierte. Fabian Cancellara hatte sich vorgenommen, die Etappe zu gewinnen. Vor seinen eigenen Leuten, in seinem eigenen Kanton. In diesem Sommer war das Velo war sogar jenen sympathisch, die im Alltag lieber mit vier Rädern unterwegs sind. Und in diesem Sommer zeigte Ursula Wyss den Berner:innen, wie ein richtiger Veloweg aussieht. 

Sie eröffnete die erste Velohauptroute der Stadt. Drei Kilometer lang, bis zu 3,5 Meter breit, grüne Welle, keine Unterbrüche. Der Autoverkehr kollabierte nicht, das Gewerbe auch nicht. Seither an konnte Ursula Wyss selbst dem konservativsten Verkehrsplaner (hier scheint die männliche Form tatsächlich angebracht) beweisen, dass es Verkehr auch ohne Motoren gibt. Und die Berner:innen können sich selbst ein Bild machen und entscheiden: «Will ich mehr davon oder nicht?». 

Die Berner:innen wollten mehr. Und wählten Ursula Wyss vier Monate später erneut in die Regierung.

 

2. Niemand mag es, im Vergleich mit anderen schlecht abzuschneiden

 

Vergleiche mit anderen Städten helfen, um zu verstehen, dass es dazu Alternativen gibt. (© fxs)

Manchmal sind wir ziemlich einfach gestrickt. An Wettbewerben zum Beispiel laufen wir gerne als erste:r über die Ziellinie. 

Wyss suchte den Wettbewerb mit anderen Städten und liess vergleichbare Daten sammeln. Wo fahren mehr Frauen Velo, wo mehr Rentner, wo ereignen sich weniger Unfälle und wo sind die Konflikte geringer? Sie suchte nach Erklärungen für die Unterschiede. Wenn Bern schlecht abgeschnitten hatte, kratzte das am Stolz ihrer Mitarbeitenden. 

Vergleiche mit anderen Städten helfen. Sie helfen der Bevölkerung und der Verwaltung zu verstehen, dass es Alternativen zur Fahrt im privaten Auto gibt. Und jetzt kratzt es am Stolz vieler anderer Schweizer Städte, dass sie in Sachen Velo schlechter abschneiden als Bern. 

 

3. Die Velofahrer:innen sind nicht immer ein Teil der Lösung

Es gibt Velos mit Körbli am Lenker, Velos mit aerodynamischen Carbonfelgen, Velos mit rostiger Kette und solche mit Elektromotor. Den einen Veloweg, der für jedes dieser Velos und deren Fahrer:innen perfekt ist, gibt es nicht. 

Als Ursula Wyss 2020 auf der Lorraine-Brücke die Radwege verbreitern und mit Pfosten physisch vom Autoverkehr trennen liess, kassierte sie nicht nur Kritik der üblichen Verdächtigen, sondern auch von Velofahrenden selbst. Die Schnellen und Sicheren befürchteten, sie könnten die Langsameren nicht mehr überholen. 

Wenn auch Kinder und Renter ohne Angst fahren können, dann tun sie es auch. (fxs)

Es ist – auch hier – eine Frage der Güterabwägung. Wenn sich die Schnellen ärgern, weil sie langsamer fahren müssen, dann war das nach Ansicht von Ursula Wyss ein angemessener Preis dafür, dass auch Rentner:innen und Kinder sicher Velofahren können. Sie hat sich entschieden, dass die Berner Velohauptrouten nicht für die Schnellen gut genug sein müssen, sondern für die Schwächeren: «Nur so bringt man mehr Leute aufs Velo.» 

 

4. Es geht nicht (nur) ums Velo

Es geht nicht ums Velo, sondern darum, was wir tun werden, wenn wir davon abgestiegen sind. (fxs)

Sie heissen Velowege und sie werden von Velofahrer:innen benützt. «Doch eigentlich», sagt Ursula Wyss, «geht es nicht nur ums Velo».

Die meisten Velofahrenden fahren nicht Velo, weil das ihre Leidenschaft ist. Sie fahren Velo, weil sie damit schnell und pünktlich ankommen. Für viele ist das Velo nichts anderes als ein Werkzeug. Die Wahl eines Werkzeuges ist keine Frage politischer Überzeugungen oder moralischer Entscheidungen. Sondern eine Frage des praktischen Nutzens. 

Der Nutzen des Velofahrens ist: Wir erreichen den Arbeitsplatz oder die Uni. Wir gehen Einkaufen oder treffen Freunde zum Kaffee. Mit einem Velo können viele Frauen und inzwischen auch immer mehr Männer komplexe Wege zwischen Zuhause, Kinderkrippe, Arbeitsstelle, Einkauf und Pflegebesuch bei den betagten Verwandten wesentlich einfacher abwickeln – ohne Stau und Parkplatzsuche. Es geht nicht ums Velo, sondern darum, was wir tun werden, wenn wir davon abgestiegen sind.

 

5. Es geht nicht (nur) um Mobilität

 

Melissa und Chris Bruntlett gehen noch einen Schritt weiter. In ihrem neuesten Buch «Curbing Traffic» vertreten sie die Ansicht, dass es bei der Gestaltung velofreundlicher Städte nicht (nur) ums Velo geht und auch nicht (nur) um Mobilität: Es geht darum, wie sich unser Mobil-Sein auf andere auswirkt. Wie viel Platz im öffentlichen Raum wir dadurch für uns beanspruchen. Wie viele Gifte wir in die Atemluft unserer Mitmenschen emittieren. Wie viel Energie wir verbrauchen. Wie viel Lärm wir verursachen. Und wie viel CO2 wir in die Atmosphäre ausstossen.

In dieser Hinsicht schneidet das Velo extrem gut ab. Nicht so gut wie das Zu-Fuss-Gehen, aber trotzdem um Grössenordnungen besser als das Auto. Wenn die Strassen für Fussgänger:innen und Velofahrende sicherer werden, steigen die Umsätze des ansässigen Gewerbes, das belegen unzählige Studien*3. In einer Stunde passen ungefähr 800 Autos durch einen Strassenquerschnitt – oder 7500 Velos. Jede:r Beizer:in, der rechnen kann, würde sein Strassencafé an einer Strasse eröffnen, die Fussgängern und Velofahrerinnen gehört. Kein Lärm, gute Luft und zehnmal so viele potentielle Gäste. Es geht nicht nur um Mobilität, sondern um auch um den Beizer. Gleiches gilt für Gewerbetreibende, Anwohner:innen, Kinder, Tourist:innen und alle anderen, die von den negativen Auswirkungen des Verkehrs betroffen sind. 

Und geht um Geld. Viel Geld. Wenn der Veloanteil in der Schweiz um 5 Prozent stiege, dann würden die Gesundheitskosten laut einer Studie der ETH um zwei Milliarden sinken*4. Das heisst: Je mehr Menschen Velofahren, desto geringer sind die Kosten für alle. Desto geringer sind sogar die Kosten für Autofahrende. 

Das sind viele gemeinsame Interessen – eigentlich ideale Voraussetzungen für Allianzen zwischen Velofahrer:innen und anderen Akteuren. Es war eine der entscheidenden Leistungen von Ursula Wyss, diese Werte zu vermitteln. In Zürich herrschen zwischen den Akteuren noch scheinbar unüberwindbare Differenzen. Um diese zu überwinden, braucht es Führung und Kommunikation. Ursula Wyss hat diese Aufgabe wahrgenommen. Wenn die künftige Tiefbaudirektorin es ihr gleich tut, kann sie in den nächsten sieben Jahren mehr zu einer enkeltauglichen Stadt beitragen als Heinrich Burkhart (FDP), Rudolf Aeschbacher (EVP), Katrin Martelli (FDP), Martin Waser (SP), Ruth Genner (Grüne), Filippo Leutenegger (FDP) und Richi Wolff (AL) – alle ihre Vorgängerinnen und Vorgänger in den letzten 50 Jahren – zusammen.


Quellen, Referenzen

*1) Volksabstimmungen, die Fördermassnahmen fürs Velo zum Gegenstand hatten: 1984: Ja zur «Volksinitiative zur Förderung des Veloverkehrs» für ein durchgehendes Velowegnetz von 200 km [76 Prozent] 2011: VI «Zur Förderung des öV, Fuss- und Veloverkehrs in der Stadt Zürich» [52,4 %] 2015: Gegenvorschlag zur «Volksinitiative für sichere und durchgängige Velorouten» [62,9 %] 2020: VI «Sichere Velorouten für Zürich» [70,5 %] 2021: Ausbau Stadttunnel als Veloverbindung [74,1 %] Ausserdem: 2008: 2000-Watt-Gesellschaft [76,4 %], 2018: Bundesbeschluss über die Velowege sowie die Fuss- und Wanderwege [73,4 % Ja-Stimmen auf Bundesebene, 79,0 % in der Stadt Zürich]

*2) Schlussbericht Velostädte

*3) Felix, Schindler, Twitter

*4) Abschätzung des volkswirtschaftlichen Nutzens (ASTRA)

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